Die Membran
Er sitzt in seinem Badezimmer auf dem Boden. Ein verzweifelter Versuch seine sterblichen Überreste leichter entsorgbar zu machen. Viel Planung war nicht in die Herbeiführung seiner derzeitigen Situation geflossen. Er hält einen rostigen Revolver in seinen Händen. Zumindest vermutet er dies. Sowohl die Feuerwaffe als auch seine Extremitäten kann er nicht mehr wahrnehmen. Die Membran wurde schon vor Wochen fertig gestellt. Er streicht über den rauen Stahl und verspürt nichts dabei. Die Membran hält ihn davon ab. Zunächst hatte er gedacht, er könne sie überkommen, durchleiden, ja vielleicht sogar überdauern. Wie naiv dieser Gedanke doch gewesen ist! Doch er ist gewachsen, genau wie der Schleier um seine Sinne. Hierbei hat er leidvoll erfahren müssen, dass es nur einen Ausweg gibt, die Flucht nach vorn. Er richtet sich auf, streckt die Beine nach vorn aus und hebt beide Hände ruhig und besonnen vor sein Gesicht, darin der Revolver.
Es begann vor Jahren, dass bei Gelegenheiten besonderer Sinnlichkeiten sich in der Peripherie seiner Sinne ein kleiner Schleier niedersetzte. Anfangs nahm er ihn kaum wahr, doch erste Bruchstücke der Membran begannen sich immer weiter in den Mittelpunkt seiner Wahrnehmung zu schieben. Dies hatte zur Folge, dass ihm immer zeitweise sehr zarte Eindrücke, wie das Rascheln der Blätter im Herbst und sein Schritt auf dem Weg durch den Wald, oder die süße von Pollen durchflutete Luft an einem frühlingshaften Morgen auf dem Weg zur Arbeit verloren gingen. Zu Beginn war es ihm noch möglich aus der Erinnerung die Kraft zu schöpfen, solche Eindrücke bewusst zu spüren. Doch jede Erinnerung verlor immer mehr an Kraft, je mehr Zeit die Membran hatte, ihm seiner äußerlichen Erfahrungen zu berauben. Bald waren die Erinnerungen so weit verblasst, dass herbstliche Geräusche und sommerliche Düfte seinem Alltag entschwunden waren. Es verging immer mehr Zeit und er wunderte sich, wie einstige Gefühle der verschiedensten Variation einfach ausblieben. Die liebsten Schallplatten entlocktem ihm keine Tränen der Verzückung mehr. Die freudigsten Gedichte aus seiner Jugend ließen ihn nicht mehr selig zurückblicken. Stattdessen sah er alles für das Material, als das es sich zeigt, jedoch nicht mehr als Entitäten des Geistes und der Seele. Je mehr Zeit verging, desto dichter wob sich die kleine Kuppel der Undurchdringlichkeit um sein Selbst und seinen Geist. Wie er sich auch drehte und wendete, er konnte nur noch durch größte Anstrengungen die Membran überlisten. Jeder Nervenkitzel und Erregung mussten jegliches vorher da gewesenes übertrumpfen, denn der Schleier war sehr gut darin, Löcher zu stopfen. Dieser hatte scheinbar ein Eigenleben entwickelt und beobachtete genau, wo Wollust und allgemeine Genusssucht seinen Bann noch brechen konnten. Er im Gegenzug machte Anstalten, ein ausgefeiltes hedonistisches Kalkül zu entwickeln, welches die feinsten Abstufungen der Begierde und Befriedigung austarierte. Hierbei war das Ziel, das schrittweise Emporsteigen auf der Trittleiter der Sinnlichkeit so flach wie nur möglich zu verrichten. Doch seine Berechnungen zeigten ihm auch, dass er so nicht lange auskommen würde. Es gibt von nichts in der Welt eine Unendlichkeit und vor allem war er sich bewusst, dass die eigenen Ressourcen ihn nicht lange neue Wege um die Membran erlauben würden. Eine Membran zeichnet sich dadurch aus, dass sie semipermeabel ist. In ihrer Entwicklung beraubte sie ihm immer mehr seiner eigenen Wahrnehmung, doch die Menschen in seinem Umfeld nahmen ihn, zumindest Anfangs, als unverändert wahr. Doch die emotionale Stille in seiner Koje schlug ihm zunehmend auf dessen Gemüht und er trug selbst kaum noch Formen der Regung nach außen. Dies wurde ihm zunehmends erschwert, da durch die ausbleibenden Eindrücke immer größere Teile seines Gedächtnisses fein säuberlich aufgelöst wurden und mit unersetzlicher Leere den freien Platz einnahm. Immer mehr zog er sein Leben in sein Innerstes zurück, um an seinen empathischen Gleichungen zu Arbeiten. Diese erlaubten es ihm von Zeit zu Zeit so heftig gegen den Schirm seiner Seele anzurennen und wie mit einer Streitaxt bestückt einen emotionalen Riss in die trübe Scheibe zu schlagen. Selbstverständlich musste er hierzu zu immer heftigeren Mitteln greifen und er näherte sich unausweichlich der Grenze, welche mit weltlichen Mitteln nicht überkommbar ist. Je näher er ihr kam, desto mehr verfluchte er sie und desto heftiger klammerte er sich an seinen Kalkül der Sinnlichkeit.
Er greift den Schaft fester, so meint er zumindest. Es erfordert viele seiner Anstrengungen bis er sich an den Eindruck des Colts, dessen Schaft und seiner Hände erinnern kann. Immerhin formt sich nun in dessen Geist eine letzte Gewissheit. Er hat die unerschütterliche Erkenntnis, dass er jetzt sterben wird.
Auf seinem Weg hatte er früh aufgegeben Buch zu führen, zu welchem Zeitpunkt er einen seiner engsten Begleiter verlor. Schon bald erlaubte ihm die Membran nicht mehr das Zerreißen einer engen Bindung zu spüren. Schon bald trauerte er diesen Ereignissen auch nicht mehr nach, da er ihre bloße Existenz nicht mehr in seiner eigenen Sphäre spürte. Er musste sich weiter in sich selbst kehren, bevor er mit Gewalt auf die Welt losgehen konnte. Bald vergaß er auch die Möglichkeit, sich in seinen Träumen frei zu entfalten. Anfangs hatte er mit Freude festgestellt, dass die Membran in diesem Kern seines Geistes keine Macht hatte. Doch mit der schwindenden Vielfalt der Sinne schwand auch seine geistige Lebhaftigkeit. Schlussendlich erschienen ihm seine Träume nur noch als verschwommene Projektionen an seiner innerlichen Kathedrale und er wandte sich von ihnen ab. Dies war der Moment in dem er verstand, dass sein Heil hinter dieser Wand zum Liegen gekommen war. Im wurde Bewusst, dass die einzige Möglichkeit der Erlösung im Jenseits zu finden war. In einem letzten Anflug von Schaffensdrang schwang er sich mit seinen Nachforschungen zu ungeahnten Höhen auf. Dabei entging ihm vollkommen, dass seine äußere Hülle, die ihm überall hin folgte, nicht nur seine eigenen Projektionen auffangen konnte, sondern auch diese selbst als Abbild in seiner Seele zu erzeugen vermochte. Sehr feinfühlig und behutsam mischte diese ohne sein Wissen vereinzelte Gedanken und Sinnbilder in das vermeintlich abgeschirmte Bewusstsein. Es war nicht mehr seines. Errungenschaften wirkten tollkühn und zielführend auf ihn, doch sein Geist wurde unmerklich in seichte Bahnen gelenkt, die er selbst niemals auf eigene Faust eingeschlagen hätte. Er vertraute seinem Bewusstsein blind und wähnte sich auf der Seite des Sieges als er sich eines Tages aufrichtete und mit Entschlossenheit auf seinen anhänglichen Begleiter zuging. Er zog alle Register und war zu Allem bereit. Seine Lebensgeister wirbelten um ihn als Zentrum und eine projizierte Zuversicht huschte vor seinem Auge vorbei. Hierbei war deren Erinnerung schon längst verblasst und er erkannte Sie als etwas Neues.
Er merkt, wie seine Hand sich fester um etwas formt und sein Zeigefinger gegen einer Art Hebel zu stoßen scheint. Er hatte sich des Revolvers erinnert und damals schien ihm dessen Kraft genug, um seinem Kerker ein für alle Mal zu entrinnen. Ohne den Charakter der Projektion zu entlarven, meint er auf die schleierhafte Wand zu zielen, als er sich in einem letzten Kraftakt seiner Muskelkontraktion am Zeigefinger erinnert.
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