Die Natur des Menschen
Im Philosophie Seminar lesen wir gerade [Ru], worin es um das Verhältnis der Natur und dem Kapitalismus geht. In der Einleitung geht es um das stetig anwachsende Ausmaß der Ausbeutung der Natur durch den Menschen und “[d]ie Gründe für dieses Anwachsen einer existenziellen Bedrohung liegen in der Organisation der gesellschaftlichen Produktion”, also in der “kapitalistischen Produktionsweise”.
Hierbei war mein Einwand, dass dies nicht die “letzten” Gründe sind. Es ist wichtig, dass diese im strikten Sinne nicht gefunden werden können, da [bla bla keine letzten ursachen, mangel an bildung (arist.), widerspruch im begriff vom anfang (hegel), blabla]
Im Protokoll der Sitzung wurde dann mein Einwand so festgehalten, dass doch die Gründe für das Ausbeuten der Natur “in der Natur des Menschen” liegen könnte. Im Folgenden versuchen wir diesen Punkt besser auszuarbeiten.
Reflexivität und Dynamik von Mehrwert
Der Author von [Ru] bemerkt absolut korrekt, dass der Zweck Mehrwert zu erzielen den Mehrwert zu etwas dynamischen und reflexiven werden lässt. Denn der Mehrwert produziert mehr (dynamisch) von sich selbst (reflexiv). Dies geschieht unter der immer weiter fortschreitenden Ausbeutung der lebendigen Arbeit und der natürlichen Ressourcen. Durch die dynamische Komponente der Mehrwertentwicklung steigt auch proportional das Ausmaß der Nutzung natürlichen Ressourcen. Ungünstigerweise sind diese endlich, weshalb der Mensch zunehmend feststellt, dass die Überstrapazierung dieser Endlichkeit zu dessen eigenen Schaden und dem der Natur ist.
Die These
Die These ist nun, dass diese Reflexivität und Dynamik ein Muster bilden, wie der Mensch mit der objektiven Welt umgeht.
Hat der Mensch ein Ding als wertvoll erkannt, versucht er das Ding aus sich selbst heraus und unter Zugabe von Äußerem im Wert weiter zu steigern. Die Interaktion vom Mensch mit seiner Umwelt erfolgt also dynamisch und reflexiv.
Träfe diese These zu, bedeutete dies, dass die kapitalistische Produktionsweise nur die ökonomische Ausprägung dieses Aspektes der Menschlichen Natur wäre. Dies würde demnach implizieren, dass das Problem der Ausbeutung der Natur tiefer liegen würde, als in [Ru] behauptet.
Beispiele
Als Untermauerung der These sollen die folgenden Beispiele dienen, die andere Aspekte des menschlichen Daseins abdecken.
Wissenschaft
In die Art und Weise wie der Mensch Wissenschaft betreibt sind Dynamik und Reflexivität tief verankert, ja stellen die inhärente Grundlage:
“Die Mathematik gibt das glänzendste Beispiel, einer sich, ohne Beihülfe der Erfahrung, von selbst glücklich erweiternden reinen Vernunft.” – Immanuel Kant, KdV
Das heißt bereits bestehende Mathematik wird genutzt um neue (dynamisch) Mathematik (reflexiv) zu entwickeln. Dabei nutzen Mathematiker “schamlos” und “gierig” die Resultate ihrer Wissenschaftskollegen, um ihre eigene Arbeit zu verrichten, nämlich neue Resultate zu produzieren. Fragt man Mathematiker, wann es denn genug Mathematik gibt, so werden diese freilich antworten, dass dies niemals der Fall sein wird.
Sie sind hierbei gleichgültig darin, wer die vorangehenden Resultate geschaffen hat, wie sie zustande kamen und warum sie ursprünglich gewonnen wurden. Die Resultate werden hierbei darauf reduziert in wie weit sie von Nutzen sein können. Denn solange diese den wissenschaftlichen Kriterien standhalten, erweisen sie sich als dienlich die eigene Arbeit fortentwickeln zu können. Ja, man muss als Wissenschaftler sogar eben diese Fortentwicklung des Status-Quo immer und immer wieder demonstrieren, wenn man als ein guter Wissenschaftler betrachtet zu werden.
Kultur
Im Kulturellen ist ewiger Fortschritt ebenfalls tief verankert. Kein Künstler wird dafür gefeiert, dass er die Techniken und Lehren seines Meisters perfektioniert und von da an in gleicher Weise weiter praktiziert, sondern sehr zum Leidwesen des Meisters mit ihnen zu verschiedenen Graden bricht und sie wo notwendig weiterentwickelt. Denn nur so bleibt unser Interesse an der Kunst gewahrt. Niemand hätte Beethoven so gefeiert, wenn er ein neuer Haydn geworden wäre, sondern er musste die bestehende Musik meistern um die Musik (reflexiv) wieder voranbringen (dynamisch) zu können. Dabei war dies nicht einmal Selbstzweck, sondern Grundvoraussetzung um überhaupt als Genie in die Musikgeschichte eingehen zu können. Das heißt, dass nur solche Kulturschaffenden beachtung von uns finden, wenn sie die Fortentwicklung ihrer Zunft vorantreiben
Es wird niemals eine letzte Musik, eine letzte Literatur, eine letzte Malerei geben. Das heißt, dass in der Interaktion von Mensch und Kultur die beiden Komponenten der Dynamik und Reflexivität ebenfalls tief eingeprägt sind. Kulturschöpfende bedienen sich ganz “schamlos” an Begebenheiten in der Gesellschaft, den Einflüssen aus anderen Kulturen und dem Schaffen von anderen in ihrer eigenen Zunft, um ihre eigene künstlerische Arbeit voranzubringen. Alle Dinge werden darauf reduziert, wie sie der künstlerischen Weiterentwicklung von Nutzen sein können.
Leistungssport
Profisportler sind davon getrieben innerhalb ihrer Disziplin zu den besten der Welt zu gehören. Sie richten ihr ganzes Leben auf den Zweck aus neue Bestleitungen zu erreichen. Die Auseinandersetzung mit der Sportart erfolgt so, dass man die bestehenden Praktiken in der Disziplin verinnerlicht und dann die Praktiken (reflexiv) so anpasst, dass neue Bestleistungen (dynamisch) möglich werden. Sei es die Entwicklung neuer Bewegungsabläufe, die Optimierung der Lebensumstände der Sportler, das Ausnutzen technischer Neuerungen oder der Missbrauch von neuen Dopingmitteln.
Kein Leistungssportler wird die Rekorde seiner Vorgänger als unbrechbar ansehen, niemand wird behaupten, dass es keinen Weg gibt bessere Leistungen abliefern zu können. Es begeistern auch genau diese Sportler am meisten, die auf möglichst spektakuläre Art und Weise Erfolge erzielen. Das heißt, dass gute Sportler genau dadurch definiert sind, wie sie innerhalb ihrer Disziplin reflexiv und dynamisch mit dieser interagieren.
Computerspiele (Ke. Dr.)
Es gibt eine Reihe von Computerspielen, die man als Aufbauspiele bezeichnen könnte. Das Hauptziel dieser Spiele ist es die Ressourcen, die die Spielumgebung liefert, auszunutzen um neue Dinge (dynamisch) schaffen zu können, deren Zweck oft darin liegt wiederum mehr Ressourcen abbauen zu können (reflexiv).
Bei komplexere Spielen, wie “Minecraft” oder “Factorio”, kann der Unterhaltungswert sicherlich auch noch auf andere Spielmechaniken zurückgeführt werden. So spielt hier auch die menschliche Neugier beim Entdecken der Spielwelt eine Rolle oder es kommen über Multiplayerelemente soziale Interaktionen oder der Wettstreit mit anderen als Mehrwert hinzu. Bei der Gruppe der sehr simplen “Incremental Games” wie “Cookieklicker” oder “Paperclips”, fallen diese anderen Aspekte jedoch völlig weg, sodass die Erhöhung der Produktion einer arbiträren Ware (Cookies, Paperclips) als einziger Spielinhalt bleibt. Man beginnt mit der manuellen “Produktion” dieser Ware durch einfaches Klicken und setzt die so gewonnenen Ressourcen erneut ein um die Produktion zu automatisieren und zu verbessern. Diese Spiele haben kein endgültiges Ende oder klar definiertes finales Ziel, sondern basieren rein auf der Schleife aus Produktion und Investition in die Erhöhung der selbigen. Trotz dieser simplen Mechanik sind Menschen bereit viele Stunden ihrer Zeit zu investieren, ohne dass dies für ihr reales Leben einen Mehrwert bieten würde. Das legt nahe, dass diese Beschäftigung ein im Menschen angelegtes streben nach immer mehr (die Gier, s.u.) ansprechen, welches für den Menschen schon für sich alleine genommen einen intrinsischen Wert zu besitzen scheint. Schließlich ist das Streben nach Mehr in diesem Fall nicht auf Dinge bezogen, die allgemein als sinn- oder wertvoll erachtet werden.
Es wird wohl niemand bestreiten, das die virtuellen Paperclips keinen Wert außerhalb der Spielwelt haben, in der sie wiederum nur für die Produktion von mehr (wertlosen) Paperclips eingesetzt werden können. Dass der Mensch dennoch bereit ist Gefallen an derartige Beschäftigungen zu finden und entsprechend Zeit zu investieren zeigt, dass für ihn schon das Streben selbst erstrebenswert zu sein scheint.
Das Verhältnis zur Moral
Doch wie kann man nun aufzeigen, dass es ein Aspekt der menschlichen Natur ist, den die obige These beschreibt? Dies wird daran deutlich, dass unsere moralischen Wertvorstellungen in welcher Form auch immer gegen den dynamischen Aspekt der These formuliert sind.
Überspitzt formuliert könnte man den dynamischen Aspekt auch als ewige in den Mensch eingeprägte Gier und Unzufriedenheit betrachten. Jedoch betrachtet kein erfolgreiches Wertesystem Gier als etwas Positives, sondern unsere Wertvorstellungen regulieren jene Gier.
In anderen Worten: wäre diese Dynamik keine natürliche uns inhärent quälende Tatsache, müssten unsere gesellschaftlichen Normen diese auch nicht regulieren. Die Tatsache, dass unsere Wertvorstellungen Gier als etwas zu zügelndes betrachten ist also Indiz dafür, dass wir eben dieses Zügeln erst im gesellschaftlichen Rahmen entwickeln mussten.
Die Tatsachen, die in [Ru] geschildert werden, um die Ausbeutung von Natur durch Kapitalismus zu verdeutlichen sind alle Ausdruck von dieser Gier, welche auf die Endlichkeit der natürlichen Ressourcen keine Rücksicht nimmt. Zwar ist der Kapitalismus erfolgreich darin Wohlstand zu erzeugen, doch dessen Wirkungsweise wird durch das stetige Überschreiten von moralischen Grenzen zunehmend kritisch gesehen. Darüber hinaus wurden auch Methoden wie die soziale Marktwirtschaft entwickelt, um die Ausmaße der kapitalistischen Dynamik mehr oder minder erfolgreich zu lenken und zu dämpfen.
Die Wissenschaft als Ganzes hat besonders im Hinblick auf die Ermöglichung von neuen Technologien einen unermesslichen Beitrag zur Verbesserung unserer Lebensumstände geleistet. Niemand wird ernsthaft behaupten, dass wir ohne Physik, Chemie oder Mathematik ein besseres Leben führen würden. Doch auch in der Wissenschaft gibt es solche Beispiele, wo der Gier nach neuen Erkenntnissen Grenzen gesetzt werden müssen. Nicht alles wird von uns als Gesellschaft toleriert. Bei Genmanipulation von Tieren und bald auch Menschen entstehen immer wieder große moralische Gräben in der Gesellschaft. Auch die Resultate der Kernforschung haben nicht nur positive Entwicklungen nach sich gezogen.
Der Satire als Kunstform werden in öffentlichen Diskussionen immer wieder ethische Grenzen gesetzt, Filme dürfen nicht alles zeigen, Authoren dürfen nicht alles schreiben, Musiker dürfen nicht alles verarbeiten.
Man sieht also bei allen genannten Beispielen eine Interaktion zwischen der reflexiven Dynamik und ihrem Umfeld. Das Umfeld reguliert und beeinflusst das Ausmaß und in gewisser Weise die Ansatzpunkte der Dynamik, wenn wir der Meinung sind, dass die “Gier” der Dynamik zu große Ausmaße angenommen hat.
Zusammenfassung
Es scheint so als würde man das Muster von Reflexivität und Dynamik in sehr vielen Aspekten des menschlichen Daseins finden. Hierbei trifft man auch von der gesellschaft entwickelte Mechanismen um diese Dynamik (gesetzlich, moralisch, technisch) zu regulieren.
Dieses Wiederfinden bedeutet nicht, dass der Kapitalismus die Natur nicht ausbeutet. Es bedeutet auch nicht, dass es nicht sinnvoll ist die Struktur dieser Ausbeutung zu studieren. Schließlich ist es offensichtlich, dass die Ausbeutung nur reguliert werden kann, wenn man deren Wirkungsweise durchdrungen hat.
Dieses Wiederfinden verschlimmert das Problem im Grunde maßlos, denn es deutet an, dass eine Kritik des Kapitalismus zu kurz greift. Wenn der Eindruck, dass unsere Art zu wirtschaften nur Ausdruck eines tiefer liegenden Phänomens ist, so wird auch die Umwälzung unserer Produktionsweise nicht die Lösung des Problems sein.
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