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Der Kastanienbaum

Der Bauhof war mein Abenteuerspielplatz. Er war aufregend, ständig im Wandel, weitläufig und ein klein bisschen gefährlich. Neben dem Grundstückszaun, der das Gelände ringsum berahmte, wurde ein Teil des Randes von einer mächtigen Kastanie bewacht. Sie wirkte, als wäre sie vor Äonen aus eines Titanes Hand hier in unsere Welt gerammt worden. Zwar dachte ich mir das damals als kleiner Bub’ nicht so, doch rückblickend muss ich mich so gefühlt haben. Jeden Sommer warf sie einen riesigen Schatten, in dessen milder Kühle vor allem die stacheligen Früchte den Anfang ihres Lebens fristeten.

Jedes Jahr kam der Herbst und der Baum ließ bereitwillig des Sommers pralle Frucht mit jedem Windstoß mit größerer Bereitwilligkeit und Wucht zu Boden prasseln. Am Fuße des Baumes befanden sich schwere aber bereits von Regen und Würmern zerfressene Holzbalken mit großen Spinnen und ausgeprägten Ritzen. In eine solche muss eines Herbsttages eine der kleinen von Stacheln geschützten Kugeln gekullert sein.

Auf den Palisaden konnte man ganz hervorragend klettern und Ungeziefer beobachten. So muss es sich begeben haben, dass ich ganz erstaunt dreinblickte, als ich diesen Miniaturbaum, dieses kleine Etwas, gesehen habe. Er ragte sehr grazil und auch ein bisschen trotzig aus der Holzspalte hervor. Für seinen ausgewachsenen Schöpfer muss es wie ein Blick in die eigene längst verblasste Vergangenheit gewesen sein. Ein Abdruck seiner selbst erschien da unter ihm, in diesem kleinen Spalt.

Mit ein wenig Geschick und viel ungeschickter Kraftanstrengung gelang es mir, dem kleinen Bub’, schlussendlich den Sprössling samt seiner Wurzeln aus dem Balken zu zerren. Die Frage, was nun zu tun sei, wurde an die Frau Mutter - Herrin des Gartens - gerichtet, die mir einen kleinen Platz am Rande der großen Wiese zeigte. Ich liebe es Löcher zu buddeln. Mit riesiger Inbrunst und kleiner Sorgfalt entstand mit einem eigens für mich besorgten und deshalb kleineren Spaten ein vorzügliches Loch. Einsetzen. Mit Erde behäufen. Angießen. Das geschah und ich war stolz auf mein Werk.

Über die kommenden Jahre sollte ich den Baum, der ganz mein eigener Zögling war, immer mehr in mein Herz schließen. Ich sah, wie sich der braune Ring um seinen noch zierlichen Stamm wieder mit Gras bekleidete und sah, wie er im Herbst sein Laub abwurf. Er wuchs mit jedem Jahr ein großes Stück und hatte meine Körpergröße bald übertroffen. Ich goss ihn desweilen, ohne dabei den anderen Pflanzen in der Umgebung Beachtung zu schenken.

Heute, viele Jahre später, weiß ich nicht, ob er noch an seinem alten Fleck steht, ob er überhaupt noch seine Wurzeln durch die Erde schlingt. Hat er schon einmal Früchte getragen? Wachsen vielleicht jetzt in seiner Umgebung dessen Sprösslinge? Hat er jetzt schon für dieses Jahr sein Gewand abgelegt? Ja, ich denke bisweilen an eine Kastanie. An die Kastanie, die auf einem Holzbalken das Licht der Welt erblickte.

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