Kommentar – "Los, komm, wir sterben endlich aus!"
In der Ausgabe 27/2019 der ZEIT findet sich ein Artikel über Antinatalisten. Diese Bewegung ist eine auf vielfache Weise motivierte, welche behauptet, dass es ein fundamentales Problem mit der Geburt von Menschen gibt. Die einen behaupten dadurch eine Verbesserung des Klimas und wieder andere sehen sich zu Unrecht mit der Grausamkeit des Lebens konfrontiert und geben daran ihren Eltern die Schuld. Im Folgenden habe ich versucht die grundsätzlichen Argumente herauszuarbeiten und diese dann zu kommentieren.
Die Trennung von Welt und Mensch
Der Artikel beginnt mit einer Textzeile der „Die Ärzte“ (Farin sagt, man beugt den Namen nicht) und ist auch titelstiftend für jenen:
Los, komm, wir sterben endlich aus / Denn das ist besser für die Welt.
Sie basiert auf der einen Seite auf der Ansicht, dass “wir”, also die Menschen, etwas getrenntes von der Welt zu sein scheinen. Der Mensch steht der Welt als eigene Instanz gegenüber. Daran sieht man zunächst, wie tief die Einsicht des Christentums über die menschliche Weltsicht hinabreicht, denn dies ist nichts als eine Umformulierung von
Und Gott sprach: Seht da, ich habe euch gegeben allerlei Kraut, das sich besamt, auf der ganzen Erde und allerlei fruchtbare Bäume, die sich besamen, zu eurer Speise – Genesis 1;29.
Die subjektive Wahrnehmung eines jeden Einzelnen ist, dass wir der Welt gegenüberstehen. Wir scheinen auf dem ersten Blick nicht in sie eingebettet, sondern ihr ein Äußeres zu sein – es ist als wäre die Welt für uns gemacht. Dabei missachten wir wohlwollend, dass jeder andere Mensch für uns selbst ein Teil der Welt ist. Man kann sich also die Menschheit nicht nur als etwas der Welt veräußertes vorstellen, sondern man muss beide Seiten gleichzeitig denken. Subjektiv stehen wir der Welt gegenüber, objektiv sind wir tief mit ihr verwoben, ja ununterscheidbar von ihr.
Das heißt, sollten wir aussterben, dann würde mit uns ein Teil der Welt vergehen. Dabei ist erst einmal nicht klar, warum es besser für die Welt sein sollte, dass der Mensch verschwindet, anstatt dass dieser den Eisbären ausrottet. Als Teil von der Natur sind wir genauso “Schuld” daran, dass sie verändert wird, wie alle anderen Lebewesen vor uns zu deren Lebzeiten.
Das Argument der „Die Ärzte“ könnte ein wenig umgestrickt werden, indem man behauptet, dass der Mensch eine höhere Intelligenz, deswegen höhere Moral und deswegen höhere Verantwortung für sein Umfeld besitzt. Doch diese naive Sicht ist auch wieder der subjektiven Perspektive geschuldet, in welcher unser Bewusstsein uns suggeriert, wir hätten einen freien Willen, könnten stets vernünftige Entscheidungen treffen und seien auch gewillt dies zu tun. Dabei missachten wir, dass in uns die gleichen Verhaltensmuster verankert sind, wie bei allen anderen Säugetieren und wir deshalbt keinen Grund zur Annahme haben, etwas besseres als Eisbären zu sein. In gewisser Weise enthebt dies uns unserer Schuld, die vom Besitz unserer “Intelligenz” herrührt.
Das Leiden im Leben
„Das Elend des Lebens ist so unermesslich: Ich wünschte ich wäre tot.“
Das Leiden im Leben der Menschen ist eine alle Kulturen durchziehende Konstante. Trotz all der Errungenschaften unserer Spezies haben wir es nie überwinden können. Weder Philosophie, noch Technik, noch Kapitalismus, nichts und niemand, waren bis dato in der Lage uns von diesem Leiden zu erlösen. Doch Suizid oder Vermeidung von Leben als Lösung dieses Problems zu suggerieren ist nicht einmal logisch tragbar. Es ist vielmehr nur eine Vermeidung des Problems, denn solange es einen Menschen gibt, oder irgendwann wieder geben sollte, wird dieser mit diesem gleichen Leiden konfrontiert sein. Auch die Beseitigung des Leids durch technische, politische, philosophische oder wirtschaftliche Konzepte hat bis jetzt keine substanziellen Früchte tragen können – zumindest nicht subjektiv. Dies liegt einfach daran, dass es keine von uns beeinflussbaren Auslöser für das Leiden gibt außer dem Leben selbst. Die Aussage “Leben ist Leiden” ist also im vollsten Sinne wörtlich zu nehmen.
Die einzige Möglichkeit mit diesem Leid fertig zu werden ist erstens die Akzeptanz, dann die Hinwendung darauf und schließlich das Verharren dabei. Wir können Leid weder vermeiden, noch beseitigen. Doch wir können in der willentlichen, kompetenten und ständigen Konfrontation damit unsere eigene Erlösung herbeiführen. Nietzsche nannte es den Willen zur Macht, Schopenhauer Wille, das Christentum den Glauben an Jesus Christus, Aristoteles das Gute. Die theologischen und philosophischen Ausprägungen sind vielfältig und so individuell wie die Mitglieder unserer Spezies. Die Botschaft ist jedoch immer die gleiche: man muss mit dem Leid für immer kraftvoll Ringen und nur mit dieser lebenslangen Anstrengung ist das Leid zu überwinden. Nicht durch feiges Ausweichen in den Tod, oder stümperhafte Versuche es zu beseitigen.
Die Missachtung des Potentials des Individuums
Die Überbevölkerung, so die Forscher, stelle klimapolitisch das größte Problem dar, also eines, an dem der oder die Einzelne wenig ändern kann […]
Zunächst einmal kann man die Überbevölkerung auch als Chance sehen, denn schließlich steigt mit der Anzahl an Menschen auch die Anzahl von verfügbaren Köpfen, die gute Ideen haben können. Zweitens steigt zusammen mit der wachsenden Bevölkerung auch die Notwendigkeit für eben diese guten Ideen. Es entsteht also bei immer mehr Menschen das Bewusstsein, dass dieses Problem ein relevantes ist.
Weiterhin macht die obige Aussage den Fehler, dass sie davon ausgeht, dass das Problem der Überbevölkerung nur durch weniger Menschen zu lösen ist. Ich denke, dass die Gegenargumente dazu ziemlich offensichtlich sind. Wir können durch geschickteres Wirtschaften Ressourcen besser verteilen, durch Technologie Ressourcen besser nutzen oder neue erschließen und wir können durch politisches Handeln neue Formen des Zusammenlebens organisieren und genau das haben wir in allen Zeiten unserer Zivilisation getan. Schließlich könnten wir mit den writschaftlichen Strukturen, den den technischen Möglichkeiten und der Gesellschaft der alten Griechen keine Millionenmetropole am Laufen halten. Dazu sind alle Errungenschaften unserer Zivilisation notwendig.
Mein obiges Argument über die Anzahl von denken Köpfen funktioniert jedoch nur, wenn man jedem Individuum ein Potential zuspricht, die Welt zu verändern. Im selben Artikel, wird von Greta Thunberg und einer Gallionsfigur der Antinatalisten gesprochen, die beide lebende Beweise für genau dieses Potential sind, welches im obigen Zitat aber verneint wird.
Im Grunde hat uns zwar die Kraft des Individuums in die aktuelle Lage gebracht, in der wir denken bald auszusterben, weil wir das Klima ruiniert haben. Doch genau diese Kraft ist auch diejenige, welche allein die Möglichkeit hat uns aus der Misere hinaus zu führen. Auch die Technologien der Zukunft, welche uns in die Lage versetze die Klimakrise zu bewältigen werden aus diesem unerschöpflichen Topf unserer Kreativität entfließen. Wenn wir also auf dieses Potential des Individuums und damit am Ende auch das Potential unseres Kollektivs vertrauen, so schimmert die Hoffnung eigentlich in jeder noch so verzweifelten Lage am Horizont. Und diese Hoffnung wird von jeder Greta, immer und immer wieder bestätigt werden.
Am Ende bleibt uns eigentlich nur die Flucht nach vorn. Jeder, der das Klima für die größte Herausforderung hält, sollte sich selbst und sein Leben auf die Kette bekommen und auch dort behalten. Und dann ist man quasi dazu verpflichtet Kinder zu zeugen und diese in diesem Geiste der ökologischen Achtsamkeit zu erziehen. Denn so maximiert man das Potential in der Zukunft, dass wir Herr über unsere ökologischen Unzulänglichkeiten bleiben.
Erhebt man sich eine Stufe weiter über die Argumentation, dann sind Öko-Antinatalisten auch in gewisser Weise paradox. Denn auf der einen Seite engagieren sie sich als Einzelne für ihre Weltsicht indem sie bloggen, proklamieren und publizieren. Das heißt, sie vertrauen in ihre eigene individuelle Kraft die Welt zu verändern. Im Inhalt ihrer Argumente sprechen sie allen anderen Menschen diese Kraft aber ab, weil sie verneinen, dass man diese dem Einzelnen eigene Energie auch nutzen könnte um einen Beitrag in der Welt zu leisten.
Die Annahme, dass nach uns alles besser wird
Weil man eingesehen hat, zu einer Spezies zu gehören, die es aufgrund ihres zerstörerischen Verhaltens besser nicht mehr geben sollte oder, theoretisch, am besten gar nie erst gegeben hätte.
Der Mensch besetzt im Sinne der Evolution eine ganz bestimmte Nische. Ohne jetzt genau festlegen zu können, welche das ist, muss diese existieren, sonst würden wir einfach nicht auf diesem Planeten wandeln. Diese Nische war auch über die Zeit sicher nicht immer die gleiche, doch es muss immer eine gegeben haben. Was passiert nun also, wenn Homo Sapiens Sapiens freiwillig ausstirbt? Es entsteht eine freie Nische für unsere Nachfolger! Wie gesagt: die Nische hat existiert, wir hatten sie besetzt, jetzt sind wir weg, also ist ein Vakuum entstanden. Da die Evolution ein vom Zufall getriebener Prozess ist, sehe ich erst einmal keinen Grund, warum in Zukunft nicht eine neue Spezies diese Nische für sich entdecken sollte. Und da die Nische in gewisser Weise die Spezies formt, gibt es eine Wechselbeziehung zwischen Nischen und deren Besetzern. Das heißt, dass es eine strukturelle Ähnlichkeit zwischen der uns folgenden Spezies und uns selbst geben wird. Das heißt es ist nicht einmal sicher, ob unser Aussterben dem Planeten wirklich helfen wird.
Hierbei ist die Freiwilligkeit des Aussterbens für das Argument wichtig. Denn würden wir durch Selektionsdruck von Außen aussterben, so bedeutete dies, dass die von uns besetzte Nische nicht mehr vorhanden wäre und zunächst erst einmal nicht mehr besetzt werden könnte. Das freiwillige Verschwinden beseitigt diese aber nicht, sondern lässt sie weit offen klaffend stehen um der Evolution in ihrer Kreativität freien Lauf zu lassen.
Die Verschiebung der Irrationalität
Ein abgeklärter Heroismus, der sich fortschrittlich gibt, sich nicht länger beirren lässt von den dummen biologischen Reflexen des Körpers, den er zugunsten einer logischen Entscheidung überwunden hat, rational und aufgeklärt.
Das muss mir nun mal einer erklären, wie es ein Mensch, oder auch eine Gruppe, geschafft haben soll, die eigenen biologisch eingeprägten Denkmuster zu überwinden und dabei auch noch die Reflexe zu unterdrücken. Wer soetwas behauptet hat den Menschen so gut verstanden, wie die antiken Griechen und hat seitdem jegliche wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Menschen missachtet. Man denkt immernoch, dass der Mensch kein Tier ist und in der Lage ist sich gegen die eigene Natur zu verhalten. Doch wie soll das möglich sein? Denn per Definition ist unsere Natur ja gerade das, was unser natürlichen Verhalten festlegt und jeder, der behauptet dem entkommen zu sein, ist einer Illusion unterlegen. Man gibt sich von der ratio geleitet, doch genau diese Grundannahme ist falsch und irrational. Es ist eine Verstrickung in paradoxe Denkmuster zu erkennen, die nicht neu, originell oder gar zielführend sind. Damit reiht sich diese Argumentationslinie in die Liga der Denkarten ein, welche ihre Menschenfeindlichkeit mit der Vernunft zu begründen versuchen.
Letztlich hat sich die Irrationalität nur von einer zur anderen Stelle bewegt und wir sind keinen Schritt voran gekommen.
Die Sehnsucht nach der kindlichen Unschuld
»Die Gebärmutter ist das Nirwana. Es ist ein warmer feuchter Rave in der Mitte der Erde, aber du bist der einzige Raver«
»jene Schöne Zeit der Freiheit von der Tyrannei der Hormone«
Und sie waren beide nackt, der Mensch und das Weib, und schämten sich nicht.
Die Grundeinsicht ist eben, dass das Bewusstsein und die Freiheit des Menschen nicht ohne die Fähigkeit zur Angst, nicht ohne die Gefahr des Irrtums und ohne die Sicherheit des Leidens zu haben ist.
Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis daß du wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist. Denn du bist Erde und sollst zu Erde werden.
Und noch schlimmer! Wir haben das Gefühl vom Paradies noch in uns, wir verzehren uns danach und suchen nach Wegen zurück dorthin, wir himmeln dieses Reich an und vergöttern den Zustand, den wir darin hatten. Dieses Gefühl der verlorenen Unschuld ist so alt, wie die Menschheit selbst. Deshalb ist es in der Bibel auch das erste was den ersten Menschen überhaupt direkt nach deren Schöpfung passiert und auch das erste, was Gotama dazu bewegt sein eigenes heimisches Paradies zu verlassen. Wer aber den Zustand im Paradies als etwas Erreichbares proklamiert ignoriert jegliche menschliche Kulturgeschichte, die als substanziellste aller Lehren genau dies hervorbringt: die Rückkehr ins Paradies ist nicht nur unmöglich, der Versuch dieses Rückgangs wird dein Leben miserabel werden lassen und dich dazu bringen es zu verneinen.
Der kategorische Imperativ
„Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“
Worauf läuft die Anstrengung der Antinatalisten hinaus? Ist das moralisch, was sie da proklamieren? Ich gebe zu, dass Kant hier ein schweres Geschütz ist, aber unfair ist es eben auch nicht. Kann ich widerspruchsfrei wollen, dass Kinderfreiheit ein allgemeines Gesetz werden soll? Der Witz ist hierbei, dass ich das wirklich nicht könnte, weil es bei Anwendung auf meine eigenen Eltern dazu führt, dass ich es aus Mangel von Existenz nicht kann. Wir befinden uns hier also bei einer Denkübung, die seit der Aufklärung offensichtlich unsere moralischen Standards nicht erfüllt.
Zusammenfassung
Die Forderung nach der Kinderfreiheit ist also auf vielen verschiedenen Ebenen nicht haltbar. Unser subjektives Menschenbild wird verklärt, das Vertrauen ins Individuum wird verworfen, man verstrickt sich in Paradoxien und gibt sich einer irrationalen Sehnsucht hin. Im Nachhinein wundert mich ein wenig, wie Die ZEIT einer solchen Schule des Denkens überhaupt eine Plattform bieten konnte. Ich persönlich finde deshalb den Artikel ein bisschen zu neutral dem Thema gegenüber eingestellt, weil die Sache eher belächelt wird, anstatt vom Autor radikal kritisiert zu werden.
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