Karl Marx: Das Kapital
Am 18. April 2017 beginnen wir die Lektüre von [MEW23] mit dem ersten Kapitel. Die Einleitung muss ihres Gegenstandes wegen so vage und empirisch bezogen sein, wie wir es weiter unten vorfinden werden, da der Gegenstand noch nicht entwickelt worden ist, zu welchem das Buch einen Beitrag leisten will.
Ware und Nützlichkeit
Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ungeheure Warensammlung, die einzelne Ware als seine [des Reichtums] Elementarform. Unsere Untersuchung beginnt daher mit der Analyse der Ware.
Marx eröffnet [MEW23], indem er klärt, womit anzufangen sei. Er spricht von “Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht”. Das impliziert, dass es auch andere Gesellschaften geben muss – zB. feudale oder antike. Der Reichtum erscheint lediglich als “ungeheure Warensammlung”, d.h. dass Reichtum etwas anderes sein kann und dass Reichtum sich anders äußern kann. Hierbei ist auf die in der Philosophie übliche Trennung zwischen Erscheinung und Wesen verwiesen worden.
Die Warensammlung besteht aus einzelnen Waren. Dabei geht es nicht um die Ware an sich oder um diese als Gattungsbegriff. Die einzelne Ware ist Marx’ Ausgangspunkt für die Analyse der “politischen Ökonomie”.
Die Ware ist zunächst ein äußerer Gegenstand, ein Ding, das durch seine Eigenschaften menschliche Bedürfnisse irgendeiner Art befriedigt. Die Natur dieser Bedürfnisse, ob sie z.B. dem Magen oder der Phantasie entspringen, ändert nichts an der Sache.
Die Ware ist (zunächst!) ein empirisches Ding, das vorgefunden wird. Ausgangspunkt von Marx’ Analyse sind also empirische Beobachtungen. Die einzige Spezifikation, die einer Ware bisher zukommt, ist, dass diese menschliche Bedürfnisse befriedigt. Dabei ist es gleich, ob diese Bedürfnisse unverkennbar oder erdacht sind.
Es handelt sich hier auch nicht darum, wie die Sache das menschliche Bedürfnis befriedigt, ob unmittelbar als Lebensmittel, d.h. als Gegenstand des Genusses, oder auf einem Umweg, als Produktionsmittel.
Desweiteren ist es gleich, ob die Bedürfnisbefriedigung auf direktem Weg erfolgt oder nicht. Produktionsmittel sind Arbeitsgegenstände und Arbeitsmittel bspw. Maschinen und Ressourcen, womit und woraus dann schlussendlich Waren hergestellt werden.
Jedes nützliche Ding, wie Eisen, Papier, usw., ist unter doppeltem Gesichtspunkt zu betrachten, nach Qualität und Quantität.
Jede Ware muss nach Qualität und Quantität unterschieden werden. Diese sind aufeinander verwiesene Reflexionsbegriffe. Beide sind Teil der Hegel’schen Dialektik, auf die Marx hier verweist. Qualität und Quantität sind Momente, die in einer Einheit aufgehoben sind. Bei Hegel ist “das Maß”[Wdl] die Einheit beider. Betrachtet man jeweils nur eine Seite, kann man die Ware nicht begreifen.
Jedes solches Ding ist ein Ganzes vieler Eigenschaften und kann daher nach verschiedenen Seiten nützlich sein.
Diese verschiedenen Seiten und daher die mannigfachen Gebrauchsweisen der Dinge zu entdecken ist geschichtliche Tat. So die Findung gesellschaftlicher Maße für die Quantität der nützlichen Dinge. Die Verschiedenheit der Warenmaße entspricht teils aus der verschiedenen Natur der zu messenden Gegenstände, teils aus Konvention.
Jede Ware hat mehrere Nützlichkeiten, diese liegen aber nicht ahistorisch im Ding. Es ist “geschichtliche Tat” die Ware brauchbar zu machen, das zu befriedigende Bedürfnis muss erst vorhanden sein, zB. durch die Notwendigkeit als Produktionsmittel oder durch gewonnenes Verständnis über das Ding. Beispielhaft sei hier auf die “geschichtliche Tat” bei der Entwicklung von Herstellungsmethoden und Verwendung von Eisen verwiesen. Diese Nützlichkeit kann aber auch klarerweise genauso wieder verschwinden. An dieser Stelle ist Marx’ wichtige und allgemeine Feststellung, dass jedweder von hier ausgehenden Bestimmung zunächst eine zeitliche Abhängigkeit anhaftet.
Auch die quantitative Seite ist historisch-gesellschaftlich vermittelt. Darüber hinaus ergibt es wenig Sinn, wenn man Kartoffeln in Metern messen würde oder aber Fahrräder in Tonnen.
Gebrauchswert
Im folgenden geht Marx auf den Gebrauchswert ein.
Die Nützlichkeit eines Dings macht es zum Gebrauchswert. Durch die Eigenschaften des Warenkörpers bedingt, existiert sie[die Nützlichkeit] nicht ohne denselben. Der Warenkörper selbst, wie Eisen, Weizen, Diamant, usw., ist daher ein Gebrauchswert oder Gut.
Der Gebrauchswert ist nicht ohne Nützlichkeit des Dings und nicht ohne den (empirischen) Warenkörper des Dings. Die Nützlichkeit ist durch die Eigenschaften des Warenkörpers bestimmt. Der Warenkörper drückt eine Qualität aus und ihm kommt selbst Gebrauchswert zu.
Dieser sein Charakter hängt nicht davon ab, ob die Aneignung seiner Gebrauchseigenschaften dem Menschen viel oder wenig Arbeit kostet.
Hier erwähnt Marx erstmalig einen Zusammenhang zwischen Ware und Arbeit, betont aber, dass die Menge an Arbeit irrelevant ist für die Eigenschaft Gebrauchswert zu sein.
Bei Betrachtung der Gebrauchswerte wird stets ihre quantitative Bestimmtheit vorausgesetzt, wie Dutzend Uhren, Elle Leinwand, Tonne Eisen usw.
Auch der Gebrauchswert ist nicht nur Qualität, sondern muss immer mit einer Quantität versehen betrachtet werden.
Der Gebrauchswert verwirklicht sich nur im Gebrauch oder der Konsumtion.
Marx trennt den Gebrauch von der Konsumtion. Hierbei steht ersterer für die bloße Verwendung der Ware ohne Veränderung der qualitativen oder quantitativen Eigenschaften, bspw. Benutzung eines Fahrrads. Während der Konsumtion wird die Ware verbraucht, ihre Qualität und Quantität ändern sich, bspw. beim Verzehr von Nahrung.
Gebrauchswerte bilden den stofflichen Inhalt des Reichtums, welches immer seine gesellschaftliche Form sei. In der von uns zu betrachtenden [kapitalistischen] Gesellschaftsform bilden sie zugleich die stofflichen Träger des – Tauschwerts.
Unabhängig von der gesellschaftlichen Form bildet sich der Inhalt des Reichtums aus Gebrauchswerten. Die gesellschaftliche Form des Reichtums erscheint bpsw. in der kapitalistischen Gesellschaft als “ungeheure Warensammlung”. Der Gebrauchswert fungiert im Kapitalismus gleichzeitig als stoffliche Form für den Tauschwert.
Tauschwert
Der Tauschwert erscheint zunächst als das quantitative Verhältnis, die Proportion, worin sich Gebrauchswerte einer Art gegen Gebrauchswerte anderer Art austauschen, ein Verhältnis, das beständig mit Zeit und Ort wechselt.
Marx beginnt mit der Beschreibung der Erscheinung des Tauschwerts; dessen Wesen ist also noch zu finden. Der Tauschwert hängt von zwei verschiedenen Waren ab, zwischen deren Gebrauchswerten der Tauschwert ein Verhältnis herstellt, um sie als gleichwertige tauschen zu können, also den Äquivalententausch vollziehen zu können. Dieser Tauschwert ist aber nicht konstant oder objektiv, sondern hängt zusätzlich vom Zeitpunkt und Ort des Tausches ab.
Der Tauschwert scheint daher etwas Zufälliges und rein Relatives, ein der Ware innerlicher, immanenter Tauschwert also eine contradictio in adjecto.
Marx betont an dieser Stelle, dass der Tauschwert von äußerlichen Umständen (Ort und Zeit) und einer anderen Ware abhängt. Es scheint also keinen “immanenten Tauschwert” zu geben, der in der Ware liegt.
Im folgenden Absatz geht Marx auf diesen Schein ein. Er stellt fest, dass ein Quarter Weizen gegen $x$ Stiefelwichse oder auch $y$ Seide usw. getauscht werden kann. Eine Ware hat also viele Tauschwerte, nicht nur einen, denn “Mannigfache Tauschwerte also hat der Weizen statt eines einzigen.” Gleichzeitig können aber $x$ Stiefelwichse gegen $y$ Seide getauscht werden, da sie aufgrund der Transitivität äquivalent sein müssen, weswegen diese Tauschwerte “durch einander ersetzbare oder einander gleich große” sein müssen. Die verschiedenen Tauschwerte einer Ware drücken also ein Gleiches aus. Der Tauschwert ist aber nur “Erscheinungsform” für etwas von ihm Ungleichem.
Da dieses Äquivalenzverhältnis zwischen allen Waren besteht, existiert “ein Gemeinsames von derselben Größe in zwei verschiednen Dingen Beide sind also gleich einem Dritten, das an und für sich weder das eine noch das andere ist. Jedes der beiden, soweit es Tauschwert [ist], muß also auf dies Dritte reduzierbar sein.”
Obwohl zwei Waren also je verschiedene Qualitäten und Quantitäten besitzen, gibt es etwas Drittes, eine weitere Qualität, die beide in der gleichen Quantität besitzen, was sie vergleich- und tauschbar macht.
Dieses Dritte kann keine “natürliche Eigenschaft der Ware” sein, da diese höchstens als Gebrauchswert – als nützliche, “geometrische, physikalische, chemische Eigenschaft” – infrage kommt. Der Tauschwert abstrahiert zwar vom Gebrauchswert, existiert trotzdem nicht ohne ihn.
Möchte man den Begriff des Tauschwertes formalisieren, so bietet es sich an, diesen als eine Äquivalenzrelation zu modellieren. Hierzu benötigen wir zunächst zwei Mengen $M$ und $D$. Erstere enthält alle Mengenangaben, welche wir uns als die Menge der rationalen Zahlen vorstellen können, also $M = \mathbb{Q}$. Demnach beschreibt $M$ die Menge der Quantitäten. Die Menge $D$ beinhaltet alle Dinge mit Gebrauchswert, beispielsweise Weizen, Seide und so weiter, also Qualitäten. Die Relation aller Tauschwerte $T$ ist nun eine Teilmenge von $(M \times D) \times (M \times D)$. Und zwar ist das Quadrupel $(m_1,d_1,m_2,d_2)$ genau dann in $T$, wenn $m_1$ Einheiten der Ware $d_1$ in Bezug auf $m_2$ Einheiten von $d_2$ einen gültigen Tauschwert darstellen. Man kann dann auch $$(m_1,d_1) \sim (m_2,d_2)$$ schreiben.
Warum ist $T$ eine Äquivalenzrelation? Hierzu sind drei Eigenschaften nachzuprüfen. Hierbei können wir lediglich mittels unserer Vorstellung vom Begriff des Tauschwertes argumentieren, welche aber dann die Legitimierung für mathematische Aussagen liefert. Die Reflexivität $$(x,d) \sim (x,d)$$ ist sofort klar, da natürlich $x$ Einheiten von $d$ in Bezug $x$ Einheiten von sich selbst einen gültigen Tauschwert darstellen müssen. Die Symmetrie, welche besagt, dass gilt $$(m_1,d_1) \sim (m_2,d_2) \Leftrightarrow (m_2,d_2) \sim (m_1,d_1),$$ ergibt sich aus der Symmetrie des Tauschvorgangs selbst. Die Transitivität, also $$(m_1,d_1) \sim (m_2,d_2) \land (m_2,d_2) \sim (m_3,d_3)$$ also $$\Rightarrow (m_1,d_1) \sim (m_3,d_3),$$ folgt daraus, dass "$x$ Stiefelwichse, ebenso $y$ Seide, ebenso $z$ Gold usw. der Tauschwert von einem Quarter Weizen ist, [deshalb] müssen $y$ Stiefelwichse, $y$ Seide, $z$ Gold usw. durch einander ersetzbare oder einander gleich große Tauschwerte sein".
Hierbei ist immer noch zu beachten, dass die Relation $T$ an jedem Punkt in Ort und Zeit andere Elemente beinhaltet, doch die Eigenschaft Äquivalenzrelation zu sein bleibt bestehen.
Als Gebrauchswerte sind die Waren vor allem verschiedner Qualität, als Tauschwerte können sie nur verschiedner Quantität sein, enthalten also kein Atom Gebrauchswert.
Vergleicht man Gebrauchswerte, vergleicht man ihre Qualität. Vergleicht man Tauschwerte, vergleicht man ihre Quantität – und kann und muss deshalb die dahinterstehenden Gebrauchswerte ignorieren. Das gesuchte Dritte muss also auch vom Gebrauchswert abstrahieren.
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