Von Anfang An
Dinge existieren. Das ist schwerlich von der Hand zu weisen. Was die Dinge überhaupt sind spielt erst einmal keine Rolle. Wir wollen auch nicht darüber diskutieren, ob diese Dinge auch aufhören zu existieren, oder auch sogar anfangen können zu existieren. Hierbei ist das Ding im allgemeinsten Sinn überhaupt gemeint. Es ist auch nicht klar, ob es wirklich mehr als ein Ding gibt, doch es gibt etwas, das existiert, denn schließlich ist die Welt nicht Nichts. Ganz unumwunden formuliert gibt es mindestens ein Etwas, das ist. Es gibt ein Ding an dem sich das Alles abspielt. Nennen wir dieses Ding ein wenig spezifischer Welt.
Dem Etwas jedweder Art kann man das Nichts entgegensetzen, was ein viel komplizierteres Ding ist, als man zunächst meinen möchte. Schließlich existiert irgendetwas, doch wenn man sich das Nichts vorstellt, so kehrt man alle jeglichen Etwas innerhalb eines Gedankens in all ihre Gegenteile. Wichtig ist hierbei, dass sich dieses Umkehren nur vollziehen kann, weil es etwas gibt. Diese Denkfigur ist demnach überhaupt nur möglich, weil die Welt existiert und ein Teil dieser, in diesem Fall ich, sich dieses Umkehren zum Nichts vorstellt. Das heißt nur aufgrund der Tatsache, dass die Welt gibt kann ihr das Nichts gegenübergestellt werden. Die Welt kann ohne das Nichts sein, aber das Nichts nicht ohne die Welt.
„Aus Nichts wird Nichts“ – Parmenides: Sein und Welt.
Wenn man versucht das Nichts aus sich selbst heraus zu etwas anderem zu entwickeln, so bleibt man einfach stecken und das Nichts bleibt bei sich selbst.
Deswegen ist es für mich so verwunderlich und zugleich doch nicht, dass das Problem mit dem Anfang so verzwickt erscheint. Der Mensch erschließt sich die Welt durch ein ständiges Vermitteln zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten, zwischen Ordnung und Chaos, zwischen Altem und Neuem, zwischen Etwas und Nichts. Um die letzte Vermittlung zu erklären, ist es einfacher mit der ersten zu beginnen. Jedes Individuum – und damit auch der Mensch – ist in der Lage Bekanntes von Unbekanntem zu unterscheiden. Zwischen beiden findet also eine Vermittlung statt. In diesem Moment des Vermittelns entdecken wir also Dinge, die für uns neu sind, die förmlich aus dem Nichts auftauchen. Das hier zum Tragen kommende Sprichwort zeigt sich hier auch als des Pudels Kern, denn so ist unsere Wahrnehmung strukturiert. Dinge, die wir nicht kennen sind faktisch im Nichts zu finden. Diese Einsicht ist aber, wie man sieht, das Ergebnis einer Selbstreflexion, welche zum Ergebnis hat, dass Dinge die einmal unbekannt waren auch genauso gut Nichts gewesen sein können. Ja, auf einer ersten primitiven Stufe waren sie dies auch einmal. Jedes Ding hat also wirklich seinen Anfang im Nichts.
„In this ‘state,’ all conceivable pairs of opposites and contradictory forces exist together, within the all-encompassing embrace of an omniscient, omnipotent and altogether mysterious God.“ [Mom]
In einem nächsten Reflexionsschritt ist es also verlockend das Nichts an den Anfang zu setzen. Schließlich ist obige Einsicht, dass Alles aus dem Nichts kommt immer wahr, also das korrekte Konzept von der Welt, dass Etwas aus dem Nichts entsteht. Hierbei ist es wichtig bei dieser Aussage immer den obigen Gedankengang zu vollziehen, sodass man nicht in die logische Schwierigkeit kommt, die Parmenides hatte. Diese entsteht nämlich erst, wenn man obiges Argument auf das erste Etwas, oder sagen wir die Welt selbst, anwenden möchte. Und das ist schon eine abgefahrene Sache des menschlichen Intellekts, dass wir zu dieser natürlich erscheinenden Geistesregung fähig sind. Wir sprechen hier also vom ultimativen Anfang. Das Problem, das sich hierbei ergibt, kommt daher, dass jedes der obigen Nichts immer als konkretes Nichts vorgestellt wurde aus dem dann scheinbar irgendein Etwas entstanden ist, mit denen wir konfrontiert sind. Jedes dieser Nichts benötigt also mindestens ein Etwas um sich an diesem heraus zu bilden. Wir können deshalb unsere obige Denkfigur hier nicht ohne Weiteres anwenden. Wie kann Alles (demnach auch die Welt, das Erste) aus dem Nichts entstehen, wenn das Nichts ohne sie nicht existieren kann?
Wir sehen also unseren eigenen Intellekt mit dem Problem konfrontiert, dass dieser ultimative Anfang gedanklich gefasst sein möchte, er aber sich nicht wie jeder andere Anfang abdingen lässt. Und selbst dieser Gedanke ist nicht neu und die christliche Konzeption dessen beinhaltet bereits implizit die Lösung.
„Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.“ 1. Mose 1
In unserem Sinne wird hier das Problem auf eine ganz grandiose Art und Weise formuliert und im Mythos implizit korrekt gefasst. Zunächst werden zwei Kategorien, nämlich Himmel (lies: Nichts) und Erde (lies: Etwas), eingeführt. Mit Himmel und Erde werden die beiden ultimativen Dinge, also die Welt und das Nichts von Gott geschaffen. Weiter.
„Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser.“ 1. Mose 2
Hier als der ultimative Anfang! Die Erde, assoziiert mit dem Etwas oder dem ersten Ding, war “leer”. Hierbei ist die Leere absolut zu nehmen, das heißt das Etwas ist mit absoluter Leere gefüllt, welche auch noch “wüst”, also voller Chaos war. Leere in völliger Unordnung – im Prinzip das Nichts. Demgegenüber findet sich die Finsternis auf der Tiefe; wir sind mit dem puren Nichts konfrontiert. “Auf dem Wasser”, also zwischen beiden schwebt der Geist Gottes als Vermittler.
„Und Gott sprach: Es werde Licht! und es ward Licht.“ 1. Mose 3
Die initiale Bewegung vollzieht sich. In die tiefe Finsternis wird das Gegenteil verpflanzt und damit im Mythos formuliert, was wir oben schon festgestellt haben: nämlich dass Geist durch Sprache (lies: Denken) in der Lage ist dem Nichts ein Etwas abzuringen. Wir finden hier den Versuch eines vollständigen Rückgangs in den Grund von Allem, der so konzipiert ist, dass er zur Welt und unserer dieser Wahrnehmung passt. Die Erfahrung, wie dem Subjekt die Welt erscheint, wird auf die damals höchste Abstraktionsebene gehoben und von dort aus purzelt im folgenden alles wie oben beschrieben ins Sein hinein. Eine wundervoll abstrakte Metapher für die Art und Weise, wie sich dem Mensch die Welt eröffnet und wie jener sich diese erschließt.
„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ Joh. 1.1
Ein viel später entstandener Teil der Bibel im neuen Testament, der die obige Bewegung des Geistes noch einmal neu formuliert und zusammenfasst ohne dabei auf zu bildliche und deshalb potentiell irreführende Metapher zurück zu greifen – schließlich hatte man um diese Zeit schon bei den Griechen Schule gemacht!
Vollziehen wir nun einen kleinen Zeitsprung mitten in den deutschen Idealismus. Wir finden hier das Ergebnis weiterer Abstraktion der menschlichen Interaktion mit der Welt.
„Sein, reines Sein, – ohne alle weitere Bestimmung.“ Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik
Und diesem gegenüber:
„Nichts, das reine Nichts; es ist einfache Gleichheit mit sich selbst, vollkommene Leerheit, Bestimmungs- und Inhaltslosigkeit; Ununterschiedenheit in ihm selbst“ Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik
Wieder tauchen die beiden Kategorien auf, doch in ihrer reinsten Form, wie es unser Verstand noch zu fassen vermag. Hegel erkennt hier den gleichen Zusammenhang wie Genesis und schält die instantane und in Gedanken vermittelte Einheit des Übergehens von diesen beiden strikt verschiedenen und gleichen Begriffen:
„Das reine Sein und das reine Nichts ist also dasselbe. Was die Wahrheit ist, ist weder das Sein noch das Nichts, sondern daß das Sein in Nichts und das Nichts in Sein – nicht übergeht, sondern übergegangen ist. […] Ihre Wahrheit ist also diese Bewegung des unmittelbaren Verschwindens des einen in dem anderen: das Werden;“ Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik
Die wichtige Beobachtung hierbei ist nun, dass Hegel mit dem Werden implizit nichts Neues vorfindet, denn dies wurde im Mythos in Form von Gott zuvor schon gefasst, jedoch unter der expliziten Verwendung von Metaphern. Im Werden ist also die damals implizite biblische Schöpfung explizit enthalten. Das Ziel Hegels ist in dem Moment auch zunächst ein anderes, denn er formuliert hier den Anfang der Wissenschaften, also der Beschreibung der objektiven anstatt der subjektiven Welt. Doch scheinbar vermittelt die Gestalt des Anfangs, den das Individuum reflektiert, genau zwischen diesen beiden Sphären der menschlichen Wahrnehmung.
„Everything is something, and means something – and the distinction between essence and significance is not necessarily drawn.“ Jordan Peterson: Maps of Meaning
Im Individuum und im Anfang kommen demnach beide, Objektives und Subjektives, zusammen. Die Tatsache, dass der wirklich alte Mythos und Hegel, zumindest implizit, so nah bei einander liegen mag verblüffend erscheinen, doch der Mythos wäre nicht so lange tradiert und abgewandelt worden, wenn er dazu getaugt hätte die Subjektivität korrekt mit der Welt ins Verhältnis zu setzen. Darüber hinaus behandeln beide Dinge offensichtlich die selbe Problematik, müssen also zu Schlüssen kommen, die sich ineinander integrieren lassen, oder zwischen denen vermittelt werden kann.
„Daß die einzelnen philosophischen Begriffe nichts Beliebiges, nichts Für-sich-Wachsendes sind, sondern in Beziehung und Verwandtschaft zueinander emporwachsen, […] das verrät sich zuletzt noch darin, wie sicher die verschiedensten Philosophen ein gewisses Grundschema von möglichen Philosophien immer wieder ausfüllen. Unter einem unsichtbaren Banne laufen sie immer von neuem noch einmal dieselbe Kreisbahn: […] irgend etwas in ihnen führt sie, irgend etwas treibt sie in bestimmter Ordnung hintereinander her, eben jene eingeborne Systematik und Verwandtschaft der Begriffe. Ihr Denken ist in der Tat viel weniger ein Entdecken als ein Wiedererkennen, Wiedererinnern, eine Rück- und Heimkehr in einen[583] fernen uralten Gesamt-Haushalt der Seele, aus dem jene Begriffe einstmals herausgewachsen sind – Philosophieren ist insofern eine Art von Atavismus höchsten Ranges. Die wunderliche Familien-Ähnlichkeit alles indischen, griechischen, deutschen Philosophierens erklärt sich einfach genug.“ Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse
In einer weiteren Stufe erkennt schließlich Nietzsche, dass es eben nicht anders sein kann, weil eben der Mensch als solcher den Begriffen, die er finden kann jegliche Beliebigkeit nimmt. Die Begriffe, die dem Menschen erlauben die Welt mit Sinn und Substanz zu füllen sind vom Menschen selbst vorgegeben. Dies haben wir gerade im Anfang durchgearbeitet indem wir genau aufgezeigt haben, wie der ultimative Anfang von der menschlichen Wahrnehmung der Welt geprägt ist und jedes Ergebnis impliziter oder expliziter Reflexion desselben vom Mensch an sich bestimmt ist.
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